Steve Murdoch fing 2019 als Global Digital Lead bei WiseTech an, nachdem er bereits im Bereich Werbung und Marketing für Firmen wie Qantas, NAB und Amazon tätig gewesen war.
Wie viele Andere wurde bei Steve erst als Erwachsener eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert, nachdem er jahrelang unter falsch diagnostizierten Angstzuständen und Depressionen gelitten hatte.
Wir haben die Gelegenheit genutzt, uns mit Steve über seine Erfahrungen mit ADHS zu unterhalten und darüber, wie die Diagnose sein Leben verändert hat und warum er ADHS als seine Superkraft sieht.
Können Sie uns ein wenig über Ihre früheren Erfahrungen mit Depressionen erzählen?
Mit etwa 25-26 zeigten sich bei mir die ersten Symptome einer Depression. Damals war das noch nicht so Gesprächsthema, vor allem unter Männern, daher hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass auf dem Papier alles in Butter war, aber da hing diese dunkle Wolke über mir und ich führte viele negative Selbstgespräche.
Die Büroräume einer der Werbeagenturen, für die ich zu Hause in England arbeitete, befanden sich in einem alten Bahnbogen. Das war zwar wirklich cool, aber es gab kein Tageslicht oder auch nur Fenster. Ich ging rein, bevor es hell wurde und kam erst in der Nacht wieder heraus. Ich habe also quasi nie die Sonne gesehen. Damals litt ich schon an Depressionen, aber diese Umgebung hat sie definitiv verschlimmert.
Ich konnte auch meine eigene Gesellschaft nicht ertragen und der bloße Gedanke, an einem Freitag nichts vor zu haben, erfüllte mich mit Grauen, sodass ich immer darauf achtete, meine Wochenenden zu verplanen. Es war aber ziemlich schwierig, weil mich niemand ernst nahm, wenn ich Depressionen erwähnte. Die anderen sagten dann sowas wie „aber du machst doch ständig Party!“ Sie konnten ja nicht wissen, dass ich es an manchen Tagen kaum aus dem Bett schaffte.
Irgendwann war es dann soweit, dass ich mich an meinen Hausarzt wandte, der Antidepressiva und eine Überweisung zu einem Therapeuten vorschlug. Ich fühlte mich noch nicht bereit, direkt mit jemandem zu sprechen, also entschied ich mich zunächst für die Antidepressiva. Am Anfang wirkten sie auch gut und ich kam viel besser mit den extremen Höhen und Tiefen zurecht, aber mir war auch klar, dass ich diese Sache an der Wurzel packen musste.
Wie haben Sie diese schwierige Zeit überstanden?
Ein Teil meiner Depressionen war, dass ich das Gefühl hatte, dass ich nie etwas erreichte oder meine Pläne durchzog. Mir wurde klar, dass ich etwas ganz Anderes und Beängstigendes tun musste, und darum zog ich aus dem Vereinigten Königreich nach Australien um. Ich habe mein Auto und mein Haus verkauft, meinen Job gekündigt, und mich einen Tag vor meinem 30. Geburtstag ins Flugzeug gesetzt.
Dieser Umzug hatte große Auswirkungen, denn als ich hier ankam, habe ich direkt neue Freundschaften geschlossen, einen Job gefunden, konnte die Sonne sehen und Surfen gehen und all das. Das hat mir sehr mit meiner psychischen Gesundheit geholfen und mich beruhigt, dass ich doch etwas erreichen kann.
Ich habe einen tollen Hausarzt gefunden, der mit mir einen Behandlungsplan erstellte, was bedeutet, dass man Zugang zu von der Krankenkasse subventionierten Sitzungen mit einem Psychologen bekommt. Er hat auch meine Medikamente geändert und mich an einen Therapeuten weiterverwiesen, und von da an beschäftigte ich mich intensiv mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT).
Können sie uns ein wenig darüber erzählen, wie es war, als Erwachsener eine ADHS-Diagnose zu erhalten?
Mein inzwischen zehnjähriger Sohn hatte einige Schwierigkeiten, als er in die Schule kam, und man empfahl uns, ihn auf ADHS testen zu lassen. Er erhielt dann auch die Diagnose und wir konnten mit der Schule zusammenarbeiten, die sich mit verschiedenen Techniken zur Bewältigung auskannte, und das war echt toll. Aber als ich mich einlas, machte plötzlich vieles Sinn und mir wurde klar, dass ich definitiv so bin.
In meiner Kindheit wurden die Kinder mit ADHS stark stereotypisiert als Störenfriede und schwer erziehbar. Ich hingegen war einfach nur eine Quasselstrippe und quirlig, und niemand dachte sich weiter etwas dabei.
Daher beschloss ich, mich um eine Überweisung zu einem, auf ADHS spezialisierten, Psychologen zu kümmern, und wurde dann richtig getestet. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus medizinischen Untersuchungen und Fragebögen und Gesprächen, und die Diagnose wurde bestätigt.
Ich hatte all die Jahre gedacht, dass ich unter Angstzuständen leide und bekam dafür Medikamente und probierte alles Mögliche, wie Achtsamkeitsübungen, Yoga und Meditationen, aus, um sie in den Griff zu bekommen,. Aber erst als ich mich mit ADHS beschäftigte, machte das Ganze Sinn für mich.
Wenn ich das früher gewusst hätte, wäre das sicherlich hilfreich gewesen, aber über die Vergangenheit zu brüten, hilft ja auch nicht. Für mich ist das keine Behinderung, mir hilft es nur, zu verstehen, warum ich auf eine bestimmte Weise denke und bestimmte Dinge tue.
Wie wirkt sich ADHS auf Sie und Ihr Leben aus?
Es gibt natürlich Nachteile und ich arbeite aktiv daran, Leute nicht zu unterbrechen oder Gespräche an mich zu reißen. Ich will niemandem das Wort abschneiden und glaube auch nicht, dass meine Gedanken wichtiger sind, als die von Anderen, aber ich bin schnell begeistert und voll in der Unterhaltung und meine Gedanken überschlagen sich, da kann ich nicht anders. Aber ich weiß, dass das für manche Leute frustrierend sein kann. Mir ist das aber auch klar und ich mache Andere oft darauf aufmerksam und sage sowas wie „ich rede übrigens ziemlich viel und wenn ich dich unterbreche, dann bremse mich bitte“.
Auch das Lesen zum Vergnügen kann für mich extrem schwierig sein und ich muss immer wieder die gleiche Seite lesen, weil ich in Gedanken ganz woanders bin. Darum schaue ich viele fremdsprachige Fernsehsendungen mit Untertiteln, weil ich so gezwungen bin, mich zu konzentrieren und mitzudenken.
Ich gebe mir auch große Mühe, mein Energielevel für verschiedene Personen zu zügeln, weil nicht jede*r positiv auf ein ständig hohes Energielevel reagiert. Und ich würde mich gerne entspannen können, weil mein Gehirn morgens von der ersten Sekunde an direkt auf Hochtouren läuft und ich finde es ziemlich schwierig, runterzukommen. Bewegung ist für mich unheimlich wichtig, ins Fitnessstudio gehen, Laufen, Rennen, Tennis, mit den Kindern toben: all das hilft, mich zu bändigen.
Aber es gibt auch gute Seiten! Für mich ist ADHS in gewisser Weise eine Superkraft. Ich kann dadurch tausend verschiedene Dinge gleichzeitig machen. Das ist für die Arbeit super, weil ich ein großes Team habe und immer weiß, was bei jedem und jeder Einzelnen los ist und welche Projekte alle am Laufen sind. Wenn ich so zurückschaue, war ich vermutlich deshalb immer so gut in der Werbung, weil ich mich um so viele Dinge gleichzeitig kümmern und Probleme schnell lösen kann, weil mein Gehirn einfach so schnell arbeitet.
Es ist auch eine Superkraft, weil ich dadurch sehr kontaktfreudig und aufgeschlossen bin, weil ich mich sehr gut auf Gespräche einlassen und mich für Menschen und Themen begeistern kann. Das ist wirklich hilfreich, um Freundschaften zu schließen oder eine Führungsrolle zu übernehmen, weil ich in der Lage bin, einfühlsam zu sein, Andere zu motivieren, Ideen zu verkaufen oder Menschen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Was hat die Diagnose ADHS für Sie bedeutet?
Neurodiversität bedeutet einfach, dass man eine andere Art hat, zu denken. Meine Diagnose hat mir sehr dabei geholfen, zu verstehen, dass meine Art zu Denken oder Handeln nicht falsch ist, sie ist nur anders und dessen muss ich mir bewusst sein.
Die Diagnose war sogar eine große Erleichterung, weil ich jetzt weiß, dass es keine Angstzustände waren. Die Medikamente abzusetzen war wirklich toll. Eine der Auswirkungen der Antidepressiva war, dass ich nicht mehr wirklich geweint habe oder die vollen Höhen und Tiefen meiner Gefühle erleben konnte. Das war ganz witzig, in den ersten paar Monaten, nachdem ich die Medikamente abgesetzt hatte, ich musste weinen, weil ich meine Familie vermisste, oder bei bestimmten Filmen und dann merkte ich erst, dass das ganz normal war.
Aber das Beste ist, dass mein Sohn und ich uns so näher kommen. Er weiß, dass ich auch ADHS habe und dass er damit nicht alleine da steht und dass wir beide diese Superkraft haben, die etwas ganz Besonderes ist.
Warum ist es Ihnen wichtig, Ihre Erfahrungen mitzuteilen?
Ich glaube, jedes Mal, wenn jemand von den eigenen Erfahrungen mit Neurodiversität oder psychischen Problemen erzählt, hilft das beim Abbau von Barrieren. Je mehr Leute über ADHS reden, desto mehr hilft es Menschen, die still leiden und desto weniger wird es stigmatisiert. Ich habe also überhaupt kein Problem damit, darüber zu reden, weil ich mich nicht dafür schäme. Für mich ist es keine Behinderung, sondern sogar etwas Positives.
Ich bin in der glücklichen Position, dass ich eine unheimlich verständnisvolle und hilfsbereite Vorgesetzte habe, und mir ihr darüber zu reden war ganz einfach und natürlich, ganz ohne Vorurteile oder Missverständnisse. Für mich ist WiseTech ein solidarischer und aufbauender Ort und es ist ein sicherer Raum, um über das Thema psychische Gesundheit zu sprechen. Es wäre für mich wirklich schlimm, wenn es jemandem in meinem Team aus irgendeinem Grund nicht gut geht und er oder sie das Gefühl hätte, nicht mit mir reden zu können. Ich glaube, wenn man auch mal Schwäche zeigen und über die eigenen Erfahrungen berichten kann, wird man dadurch zu einer besseren Führungskraft, weil wir alle Menschen sind. Und wenn man sich ein wenig öffnet, dann erhält man im Gegenzug das Vertrauen und den Respekt der Anderen.
Das gehört dazu, wenn man bei einem Unternehmen arbeitet, bei dem man man selbst sein kann. Wir verbringen mehr Zeit mit unseren Kollegen und Kolleginnen als mit unseren eigenen Familien, wenn wir also nicht unser wahres Ich zeigen können, dann glaube ich schon, dass man jegliche Weiterentwicklung behindert. WiseTech ermutigt mich also, offen und ehrlich zu sein und Schwäche zu zeigen, damit auch für Andere ein sicherer Raum entsteht, in dem sie sich mitteilen können.