Aron Mercer, Chief Growth Officer bei Xceptional, erhielt mit zwölf Jahren die Diagnose „ADHS“. Als Gründungsmitglied von Xceptional liegt es Aron besonders am Herzen, neurodiverse Menschen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, in dem sie gefördert werden und einen echten Beitrag leisten können, zu unterstützen. Er berät und schult auch Unternehmen darin, wie sie ein Umfeld schaffen können, das offen für neurodiverse Teammitglieder ist.

Wir haben mit Aron über einige der Herausforderungen gesprochen, denen neurodiverse Personen im Bewerbungsprozess gegenüberstehen, und über Maßnahmen, die Unternehmen zur Überwindung dieser Barrieren ergreifen können.

Erzählen Sie uns ein wenig über Xceptional und wie alles begann.

Xceptional wurde 2017 von Mike Tozer gegründet. Ich gehöre zum Gründungsteam, das Mikes Vision aufgegriffen hat.

Mike hat autistische Familienmitglieder und das Unternehmen begann als Technologiedienstleister, der Arbeitsplätze für autistische Menschen bot, die herausragende Software-Testing-Dienste für Unternehmen bieten konnten. Aber schon nach wenigen Monaten erkannte Mike das enorme Potential für sowohl Unternehmen als auch Arbeitssuchende und rief Xceptional mit seinem einzigartigen und barrierefreien Vermittlungsdienst ins Leben.

Wir konzentrieren uns auf eine häufig übergangene und unterrepräsentierte Personengruppe. Wir finden heraus, worin sie besonders gut sind. Heute schätzt Xceptional neurodiverse Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten ein, vermittelt sie in offene Stellen und bietet Arbeitgebern dann Schulungen und Coaching zur Eingliederung an. Diese Schulungen können sehr detailliert sein, was den Einstellungsprozess, Arbeitsabläufe, Meetings, konstruktives Feedback und die Rolle der Kolleg*innen bei der Schaffung eines inklusiven Umfelds angeht.

Oft besteht der Irrtum, dass unsere Schulungen lediglich für die neurodiversen Personen gedacht sind. Sie sind aber auch für die Unternehmen gedacht, weil auch diese sich weiterentwickeln müssen. Daher arbeiten wir gemeinsam mit Technologie-Unternehmen wie WiseTech, Behörden, Konzernen und allem dazwischen.

Mit einem bewussten Fokus auf Vielfalt helfen wir Unternehmen dabei, Wachstums- und Personalbeschaffungsprobleme zu lösen. Interessanterweise haben wir derzeit in Australien eine sehr geringe Arbeitslosenzahl, gleichzeitig liegt die Arbeitslosenquote für autistische Menschen bei etwa 32%, und das schon seit langer Zeit. Und leider stellen die meisten australischen Unternehmen weniger als 3% Menschen mit einer erklärten Behinderung ein, obwohl wir etwa 15% der Bevölkerung ausmachen.

Auch auf diversen OECD-Listen rangiert Australien bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen weit unten.

Glauben Sie, das liegt an einem mangelnden Bewusstsein?

Ich denke schon, dass es zum Teil daran liegt. Wenn zum Beispiel jemand an einem neuen Arbeitsplatz anfängt und Mobilitätsprobleme hat, im Rollstuhl sitzt oder eine Gehhilfe benötigt, kann ein Arbeitgeber einfacher verstehen, wie so etwas berücksichtigt werden kann. Wenn aber jemand wie ich kommt, und aussieht wie alle anderen, aber mit einem Großraumbüro, den Ablenkungen, dem grellen Licht und anderen Dingen nicht zurechtkommt, ist es wirklich schwierig zu wissen, wie man das berücksichtigen kann. Also ja, es fehlt am Bewusstsein.

Oftmals sind Personalverantwortliche und Recruiter auch ein bisschen faul, indem sie nur nach Leuten suchen, die genau die gleiche Arbeit woanders gemacht haben. Dadurch wird es zu einem Teufelskreis. Wenn man Lücken im Lebenslauf hat, weil man gar keine Chance bekommen hat, dann setzt sich das weiter fort, weil der Lebenslauf immer wieder übergangen wird.

Es mangelt am Bewusstsein für praktische Maßnahmen, alle möglichen unsichtbaren Behinderungen zu berücksichtigen.

Welche Fehlannahmen über neurodiverse Menschen sind Ihnen bisher begegnet?

Wenn man einmal autistische Menschen als Beispiel nimmt, gibt es oft eine ganze Reihe von Reaktionen der Personalverantwortlichen. Entweder glauben sie, dass sie jemanden wie aus dem Film „Rain Man“ bekommen, der die Arbeit von drei Leuten erledigt, oder dass sie jemanden bekommen, der in der Ecke sitzt, sich hin und her wiegt und eine Menge Betreuung benötigt. Das sind typische Fehlannahmen, die uns bei Xceptional in den letzten fünf Jahren begegnet sind. Autistische Menschen sind damit vermutlich ihr ganzes Leben lang konfrontiert.

Es besteht auch die Fehlannahme, dass es zu teuer sei und sich nicht lohne, neurodiverse Menschen einzustellen. Dass man zu viel ändern müsste. Dass zu viel Betreuung nötig wäre. Dann glauben Unternehmen, dass sie nicht dazu bereit sind.

Die Curtin University hat 2016 eine Studie durchgeführt, die mit diesen falschen Vorstellungen aufgeräumt hat und herausfand, dass das Einstellen, Einarbeiten, Verwalten und Einbeziehen produktiver autistischer Menschen zu keinerlei höheren Nettokosten des Unternehmens führte, selbst wenn man die Anpassungen zur Integration der Person mit einbezieht.
Zweifellos gibt es auch Ängste, Unsicherheit und Zweifel darüber, welche Anpassungen erforderlich sein könnten.

Und dann gibt es noch die Arbeitgeber, die sagen, dass sie noch warten wollen. Das sind die, die wirklich toll finden, was wir von Xceptional leisten, aber sich noch nicht so recht bereit dafür fühlen. Sie wollen sicherstellen, dass alle Bedingungen perfekt sind. Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass man auf Perfektion warten muss. Auch hier geht man davon aus, dass neurodiverse Menschen viel Hilfe und Unterstützung brauchen. Daher müssen die Voraussetzungen perfekt sein, aber einige unserer aktivsten neuen Arbeitgeber sind schnellwachsende Technologie-Unternehmen wie WiseTech. Seit Beginn unserer Zusammenarbeit in 2018 haben Sie mehrere hundert Mitarbeiter*innen eingestellt.

Dennoch ist es wichtig, dass wir Menschen nicht alle in eine Schublade stecken. Es gibt neurodiverse Menschen, die sich nicht für Technologie interessieren, aber durchaus die Fähigkeiten besitzen, in einer kreativen Branche zu arbeiten. EY führt in den USA eine Studie mit Fokus auf Autismus durch und schätzt, dass 35% der autistischen Erwachsenen die Begabung, Fähigkeit und den Wunsch haben, in der Technologiebranche zu arbeiten. Das bedeutet nicht, dass sie alle hervorragende Programmierer*innen sind, aber der Anteil ist unverhältnismäßig höher als bei neurotypischen Menschen.

Beispielsweise werden Menschen mit ADHS oft als hervorragend im Verkauf oder im Unternehmertum eingestuft, weil wir als energiegeladen gelten und viele Ideen haben, aber es herrscht die Meinung vor, dass wir schlecht im tagtäglichen Geschäft seien.

Es gibt viele berühmte Menschen, die neurodivers sind. Zum Beispiel ist Richard Branson Legastheniker, Elon Musk ist Autist, Greta Thunberg ist ebenfalls Autistin und Emma Watson hat ADHS.

Wie schwierig ist es für neurodiverse Menschen, den richtigen Arbeitsplatz zu finden?

Wenn man sich die Statistiken über die Beschäftigungs- und Arbeitslosenzahlen von neurodiversen, und insbesondere von autistischen, Menschen im Vergleich zu neurotypischen ansieht, gibt es eindeutig ein Missverhältnis. Ich bin kein Psychologe, aber es ist wichtig zu verstehen, dass dies auch psychische Auswirkungen hat. Wir beschäftigen uns seit Jahren intensiv mit diesem Thema und haben über 2000 Kandidaten hinsichtlich ihrer Fähigkeiten eingeschätzt, die meisten davon aus Australien, aber auch einige aus dem Rest der Welt. Autismus hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Menschen mit ihrer Umgebung, inklusive anderer Menschen, interagieren. Daher kann das soziale Konstrukt des Vorstellungsgesprächs und Einstellungsprozesses unglaublich schwierig sein.

Das fängt schon bei der Stellenbeschreibung an, die oftmals als eine Art Wunschliste der erforderlichen technischen Kenntnisse formuliert ist – da sind manchmal 15 verschiedene Fähigkeiten aufgelistet. Wir haben mit hunderten von Menschen gesprochen, die bei Bewerbungen regelmäßig übergangen werden. Und auch mit Vielen, die sich, noch bevor sie eine Bewerbung einreichen, aus dem Verfahren zurückziehen, wenn da etwas steht, was sie nicht können.

Das Vorstellungsgespräch selbst kann auch deshalb sehr schwierig sein, weil der Schwerpunkt eher auf dem zu liegen scheint, wie man etwas sagt, statt auf dem, was man sagt. Für neurodiverse Menschen können Vorstellungsgespräche nicht nur durch die persönliche Interaktion belastend sein, sondern möglicherweise auch durch eine Reizüberflutung. Grelles Licht oder Geräusche, in Verbindung mit der ganz eigenen Herausforderung der Sprachverarbeitung, können sie übermäßig strapazieren. Und bei einem Vorstellungsgespräch, egal ob es per Telefon, Zoom oder persönlich stattfindet, geht es im Wesentlichen um Sprachverarbeitung. Wie interpretiere ich, was Sie sagen, und wie gebe ich eine kohärente Antwort, in die ich meine Erfahrung und meine besonderen Stärken einfließen lasse? Weiß ich, wonach Sie suchen? Darum geht es doch eigentlich in einem Vorstellungsgespräch. Und das kann eine echte Hürde sein, besonders weil Arbeitgeber oft nach Menschen Ausschau halten, die ihnen ähnlich sind.

Wie tragen Sie durch die Arbeit von Xceptional dazu bei, diese Barrieren abzubauen?

Auf der Seite der Bewerber*innen setzen wir uns dafür ein, ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. In einem herkömmlichen Einstellungsverfahren geht es oft darum, wie gut ein*e Bewerber*in die eigenen Fähigkeiten präsentieren kann. Wir haben eine Plattform entwickelt, die den Kandidat*innen hilft, ihr Potenzial in Bereichen wie Problemlösung, Sorgfalt und Logik unter Beweis zu stellen. Und dann geben wir ihnen die Möglichkeit, über ihren eventuellen Unterstützungsbedarf zu sprechen und wie ein Unternehmen ihnen zum Erfolg verhelfen kann.

Wir zeigen den Bewerber*innen, dass es Arbeitgeber wie WiseTech gibt, innovative, wachsende und inklusive Unternehmen, die gezielt nach Menschen wie ihnen suchen.

Auf der Arbeitgeberseite bieten wir Schulungen zur Inklusion an, erstellen Leitfäden zum Thema Neurodiversität am Arbeitsplatz und bieten Coaching für Führungskräfte und Teammitglieder an.

Welchen Rat würden Sie Arbeitgebern für das Einstellen neurodiverser Menschen geben?

Es fängt damit an, dass man gründlich darüber nachdenkt, was man eigentlich braucht. Was ist wirklich wichtig? Was ist weniger wichtig?

Dann sollte man sicherstellen, dass die Stellenausschreibung das auch widerspiegelt. Bei einem Vorstellungsgespräch empfehlen wir Maßnahmen, wie die Fragen bereits vorab bereitzustellen.

Es gibt auch den Trend, dass sich Arbeitgeber mit Bewerber*innen zu einem Vorstellungsgespräch in einem Café treffen. Davon raten wir ab, da einige Bewerber*innen mit Reizüberflutung zu kämpfen haben. Ich persönlich werde leicht abgelenkt. Außerdem bin ich schwerhörig, die Café-Umgebung mit all den Hintergrundgeräuschen wie Klirren, Klappern, dem Zischen aufgeschäumter Milch, Stimmengewirr etc., während ich mich zu konzentrieren versuche und um kohärente Antworten bemühe…das kann ein riesiges Hindernis sein.

Es ist wichtig, das Gespräch in einer entspannteren Umgebung zu führen. Wenn es also in einem Büro stattfindet, lassen Sie den Bewerber oder die Bewerberin nicht mit Blick auf einen Korridor, wo ständig Leute vorbeigehen und ihn oder sie ablenken, Platz nehmen.

Wie können Unternehmen sicherstellen, dass ihr Einstellungsverfahren für neurodiverse Menschen Inklusiv ist?

Unser langfristiges Ziel ist, dass man uns gar nicht mehr braucht und Unternehmen selbst einen inklusiven Einstellungsprozess haben. Wie haben Belege dafür, dass in großen Unternehmen etwa zwei Drittel der Menschen gar nicht offenlegen, dass sie neurodivers sind.

Auch aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass ich, bevor ich bei Xceptional angefangen habe, niemandem in meinem Arbeitsumfeld je gesagt habe, dass ich ADHS habe. Ich habe es nicht erwähnt, entweder weil ich mich geschämt habe, oder es nicht relevant war.

Es kann also durchaus sein, dass in einem Unternehmen Menschen einfach still bleiben, insbesondere wenn in dem Unternehmen nicht viel darüber gesprochen wird. Und um es ganz klar zu sagen: neurodiverse Menschen wollen eine Stelle nicht aufgrund ihrer Neurodiversität bekommen. Sie wollen die Stelle bekommen, weil sie gut darin sind.

Wenn ein Teammitglied die eigene Neurodiversität offenlegt, ist es am besten, ihn oder sie bei Bedarf zu unterstützen. Arbeitgeber spielen eine wichtige Rolle darin, psychologische Sicherheit und ein inklusives Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen wissen, dass sie einen Beitrag leisten.

Als Mike und ich uns vor Jahren mit Richard White zusammengesetzt haben, meinte er, dass er ein Team aus klugen Köpfen zusammenstellen wollte, die hervorragende Problemlöser seien. Ihm ging es nicht um irgendwelche Bezeichnungen, er suchte Leute, die um die Ecke denken und komplexe Probleme lösen können.

Welchen Rat würden Sie neurodiversen Jugendlichen für ihre berufliche Zukunft geben?

Es gibt heute mehr Möglichkeiten denn je für neurodiverse Menschen.

Setzen Sie sich mit den verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten auseinander. Es gibt staatliche Hilfen, hier in Australien etwa „Job Active“ oder das „Disability Employment Service Network“.

Auch die Veränderungen, die mit Corona einher gingen, haben sich deutlich auf den Zugang zu Arbeitsplätzen ausgewirkt. Für viele Stellen müssen Sie beispielsweise nicht mehr im Einzugsgebiet einer Großstadt wohnen. Die Zahl der für das „Home Office“ ausgeschriebenen Stellen hat sich drastisch erhöht.

Ich sehe diese langsame Veränderung des Arbeitsmarkts, in dem neurodiverse Menschen aktiv eingestellt werden, äußerst positiv und denke, dass diese einen positiven Einfluss auf die heutigen Jugendlichen haben wird, wenn sie ins Berufsleben oder in höhere Bildungswege einsteigen. In Australien gibt es noch Aufholbedarf bei der Inklusion von neurodiversen Menschen. Große US-Unternehmen wie SAP, Microsoft oder IBM haben da schon seit Jahren spezielle Einstellungsverfahren. Aber wenn man bedenkt, wie viele Arbeitgeber mit uns arbeiten möchten, glaube ich, dass wir an einem Wendepunkt angelangt sind. Uns wird immer mehr bewusst, dass es da draußen Gruppen von Menschen, wie zum Beispiel Autisten, mit oft erstaunlichen Fähigkeiten gibt, die häufig übersehen werden.

Wie wichtig ist es für Unternehmen und Teams, vielfältig und inklusiv zu sein?

Es gibt eine Vielzahl von Studien, die belegen, dass Vielfalt und Inklusion allgemein zu mehr Innovation, höheren Renditen für die Aktionäre, besserem körperlichen und mentalen Wohlbefinden, niedrigeren Kündigungsraten usw. führt.

Wir haben dabei zwei interessante Entwicklungen beobachtet: Zum einen gewinnen Arbeitgeber, wie WiseTech, großartige Teammitglieder für ihr Unternehmen, und zum anderen melden sich die Menschen, die bereits in diesen Unternehmen arbeiten und neurodivers sind, und sagen, „Hey, ich bin so“

Damit komme ich zurück zu meinem Thema der psychologischen Sicherheit. Diese Menschen fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz wohler, weil sich ihre Arbeitgeber plötzlich melden und sagen: „Es gibt da draußen eine Gruppe von Menschen, die wir wirklich schätzen, und wir wollen mehr von ihnen aktiv in unser Unternehmen holen.“ Dadurch fühlen sich sowohl neurodiverse als auch neurotypische Menschen dem Unternehmen verbunden. Diese Verbundenheit und das Engagement der Menschen steigen, wenn man sich bewusst auf Vielfalt und Inklusion konzentriert.

 

Finden Sie mehr darüber heraus, welche Dienste Xceptional Individuen und Unternehmen bieten kann, unter www.xceptional.io.